Zusammenhänge erkennen: Psychotherapie im Kontext von Flucht, Trauma und Gewalt
10. November 2022 | Radikalisierung und Prävention

Symbolbild. Bild: Priscilla Du Preez/unsplash.

Trauma, Folter, Gewalt und ihre Folgen sind noch immer Themen, die starke Ängste und Unsicherheiten hervorrufen können. Die öffentliche Darstellung Geflüchteter hat sich in den vergangenen Jahren von der Opfer- auf die Täter*innenrolle verlagert und zu der Vorstellung geführt, dass Flucht, Trauma und Gewalt zwangsläufig miteinander zusammenhängen. Dr. Katja Mériau setzt dieser undifferenzierten Perspektive Fakten aus der psychotherapeutischen Praxis entgegen und macht deutlich, wieso die Gleichsetzung von Traumatisierung und erhöhter Gewaltbereitschaft falsch ist.

Die Mehrheit der Klient*innen in den Psychosozialen Zen­tren (PSZ) hat von Menschen verursachte Gewalt erfahren und überlebt. In den PSZ finden sie psychosoziale und psy­chotherapeutische Unterstützung, um mit den Folgen dieser traumatischen Erfahrungen besser zurechtzukommen. Aber auch Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, kön­nen selber Gewalt ausüben bzw. wurden in ihrer Biographie gewalttätig. Diese Fälle treten im Alltag der PSZ nur verein­zelt auf [1], können aber zu Handlungsunsicherheiten sowohl auf Seiten der Klient*innen als auch auf Seiten der Thera­peut*innen führen. Unter anderem kann die oftmals not­wendige Teilnahme von Sprach- und Kulturmittler*innen im Beratungs- bzw. Therapiekontext das Mitteilen scham- und schuldbehafteter Inhalte erschweren.

Neben der psychosozialen Arbeit gehört es zum Selbstverständnis der PSZ, Politik und Gesellschaft über den Zusammenhang von Trauma, Flucht und Gewalt aus einer menschenrechtsorientierten Perspektive auf­zuklären. Dabei tragen wir die Erfahrungen und Zeugnisse unserer Klient*innen (nach Möglichkeit gemeinsam mit den Betroffe­nen) in die (mediale) Öffentlichkeit und in die Politik, um durch politisches Empower­ment der Betroffenen und Sensibilisierung der Zivilgesellschaft zu an Menschenrech­ten orientierten gesellschaftspolitischen Veränderungen beizutragen [2]. In diesem Zusammenhang ist die Art und Weise, wie medial über das Spannungsfeld von Flucht, Trauma und Gewalt berichtet wird, von großer Bedeutung. Auch wenn eine aus dem Jahr 2022 vorliegende Expertise zur Fernseh- und Zeitungsberichterstattung über in Deutschland lebende Eingewan­derte und Geflüchtete vorsichtig optimis­tisch stimmt [3], war in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs zunehmend eine Umkehr der Darstellung Geflüchteter zu beobachten: Sie wurden nicht mehr vor­herrschend als Überlebende von Gewalt, sondern zunehmend als „Gewalttäter“ bzw. generell als „Bedrohung“ beschrieben. In einer Expertise aus dem Jahr 2019 für den Mediendienst Integration [4] wird aufgezeigt, dass fast jeder dritte Fernsehbeitrag über Gewaltkriminalität auf die Herkunft der Tatverdächtigen verweist, was fast einer Verdoppelung gegenüber 2017 entspricht. Die Herkunft wird meist nur dann er­wähnt, wenn die Tatverdächtigen Auslän­der*innen sind. Verglichen mit der Polizei­lichen Kriminalstatistik ergibt sich daraus ein stark verzerrtes Bild, das die öffentli­che Wahrnehmung prägt.

Im Folgenden sollen die beiden Perspek­tiven – sowohl die psychosozial-psycho­therapeutische als auch die gesellschaft­lich-mediale – auf den Themenkomplex Flucht, Trauma und Gewalt näher beleuch­tet werden. Ausgehend von zwei Dialog­foren mit Praktiker*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen aus dem Be­reich der psychosozialen Arbeit mit ge­flüchteten und traumatisierten Menschen soll eine kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten „Täter“ und „Opfer“ und ihren Implikationen für die therapeutische Arbeit einerseits und der öffentlichen Dis­kursverschiebung andererseits ermöglicht werden. Ziel und Anspruch ist es, dem gesellschaftlichen Narrativ, in welchem (traumatisierte oder psychisch erkrankte) Geflüchtete pauschal mit einer erhöhten Gewaltneigung in Verbindung gebracht werden, differenziert Fakten entgegenzu­setzen. Wir haben uns dabei folgende Fragen gestellt:

1. Können Klient*innen gleichzeitig Opfer und Täter*in sein?

2. Sind es ganz bestimmte Lebenserfah­rungen, die Menschen zu Täter*innen machen?

3. Wie kann mit Menschen therapeu­tisch gearbeitet werden, die Gewalt ausgeübt haben?

4. Welchen Einfluss haben rassistische und kulturalisierende Stereotype auf die Wahrnehmung von „Opfern“ und „Tätern“?

1. Können Klient*innen gleichzeitig Opfer und Täter*in sein?

Dem Selbstverständnis der Psychosozia­len Zentren nach wird in erster Linie mit Menschen gearbeitet, die Opfer geworden sind – d.h. mit Überlebenden von Flucht, Folter, Krieg, von sexualisierter oder rassistischer Gewalt. Die meisten Men­schen, die Opfer von Gewalt geworden sind und Traumatisierungen erlitten ha­ben, werden nicht gewalttätig oder nur selten – Gewalt gegen sich selbst ausge­nommen. Diese kann Folge von inneren Täteranteilen (Psycholog*innen und Psy­chotherapeut*innen sprechen auch von „Täterintrojekten“) sein, die verinnerlich­ten Gedanken, Gefühlen und Handlungen der betroffenen Person entsprechen und welche dem Handeln, Fühlen und Denken der Täter*innen im Außen ähneln. Sie sind oft abgespalten, also dem Bewusst­sein nicht zugänglich und können wie ein Dia auf andere Menschen projiziert und dann stellvertretend dort bekämpft wer­den. Verinnerlichte Täteranteile können somit gegen die eigene Person oder auch gegen andere Menschen wirksam werden und müssen daher in einer Therapie be­nannt und bearbeitet werden.

Auch Menschen, die Traumatisierun­gen erlitten haben und Opfer von Gewalt geworden sind, können in ihrer Biographie selber gewalttätig geworden sein, z.B. Kin­dersoldat*innen (vor allem Jungen), Men­schen, die sich vor ihrer Flucht im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen re­gulären oder irregulären Armeen ange­schlossen haben und dort zu Täter*innen wurden oder Personen, die sowohl gefol­tert haben als auch selber gefoltert wurden (in beiden Fällen meist Männer).

2. Sind es ganz bestimmte Lebenserfahrungen, die Menschen zu Täter*innen machen – bzw. wieder dazu machen?

Die Aussage, dass Menschen in bestimm­ten Kontexten zu Täter*innen werden, es aber unter anderen Umständen nicht ge­worden wären, deckt sich mit der Erfah­rung der PSZ und angrenzenden Feldern und soll an den Klient*innengruppen der Kindersoldat*innen bzw. ehemaligen Kämpfer*innen dargestellt werden.

Kindersoldat*innen sind „Personen unter 18 Jahren, die von Streitkräften oder be­waffneten Gruppen rekrutiert oder be­nutzt werden oder wurden, egal in welcher Funktion oder Rolle, darunter Kinder, die als Kämpfer, Köche, Träger, Nachrichten­übermittler, Spione oder zu sexuellen Zwe­cken benutzt wurden“ [5]. Diese jungen Men­schen bzw. Kinder geraten häufig in eine Situation der Alternativ- und Ausweglo­sigkeit zu bewaffneten Gruppen, schlie­ßen sich diesen in eskalierten Kriegssi­tuationen an oder werden unter Zwang rekrutiert. Dabei müssen sie zahlreiche kontextangemessene Anpassungsleis­tungen entwickeln, um zu überleben und haben meist extreme Gewalterfahrungen als Opfer, Zeug*innen und als Täter*innen durchlebt. Sie werden also als Opfer zu Tä­ter*innen. Dabei bedeuten die erfahrenen und begangenen Gräueltaten für sie in der Regel einen Bruch im Referenzrahmen: Ihr Verhalten und ihr Erleben entspre­chen meist nicht ihren frei gewählten, für sie stimmigen Glaubensüberzeugungen oder Neigungen [6].

 

Kindersoldat*innen, die zwangsrekrutiert wurden, erleben das Handeln der bewaffneten Gruppen und ihre Taten zumeist als Bruch in ihrem Referenzrahmen. - Dima Zito

Aufgrund ihrer Erfah­rungen, wozu Menschen in der Lage sind bzw. was sie selber taten, treten sie erfah­rungsgemäß im PZS-Kontext eher aggres­sionsgehemmt oder mit einer generellen Zurückhaltung auf. Charakteristisch ist also vielmehr eine große Angst vor bzw. Vermeidung von Konflikten und eine aus­geprägte Aversion gegen Gewalt, nicht zuletzt aufgrund ihrer massiven Erinne­rungsbilder [7]. Es handelt sich bei Kinder­soldat*innen aufgrund ihrer besonderen Charakteristiken um eine ausgesprochen belastete bzw. vulnerable Gruppe. Gelingt ihnen der Ausstieg aus den bewaffneten Gruppen, sind sie in Deutschland neben der Verarbeitung des Erlebten mit der asyl­rechtlichen Behandlung, der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus und der damit ver­bundenen ständigen Abschiebedrohung sowie den häufig schwierigen psychoso­zialen Rahmenbedingungen konfrontiert. Diese Rahmenbedingungen haben einen relevanten Einfluss auf die Entwicklung der psychischen Verfassung und sollten so gestaltet werden, dass sie ihrer Erholung förderlich sind und nicht einer weiteren Verunsicherung oder gar Retraumatisie­rung Vorschub leisten.

Auch in der Arbeit mit Menschen (meist Männern), die in Kriegssituationen zu Täter*innen wurden, zeigt sich ein ähnli­ches Bild. Im Gegensatz zu den Kindersol­dat*innen wurden sie nicht unter Zwang rekrutiert, sondern schlossen sich meist aus Überzeugung bewaffneten Einheiten an, um gegen als ungerecht angesehene Machthaber oder Besatzer zu kämpfen. In diesem Kontext wurden sie oft selber zu Opfern und durch Kriegs- oder Gefechtser­lebnisse oder infolge von Gefangenschaft und Foltererfahrung traumatisiert. Die Flucht vor dem Krieg nach Deutschland bedeutete dabei auch eine Flucht vor der eigenen Täterschaft, ein Versuch, wieder etwas zur Ruhe zu kommen, nachdem sie den Krieg zurücklassen konnten.

Erkenntnisse zu Kindersoldat*innen, die als Geflüchtete in Deutschland oder ande­ren Industrieländern leben sowie die wis­senschaftliche Datenlage zu ehemaligen Kriegstäter*innen sind sehr dünn. Nichts­destotrotz wird oftmals im Kontext von ehemaligen Kriegstäter*innen oder gerade auch bei Kindersoldat*innen das Bild der sog. „Zeitbombe“ bemüht. Die Vorstellung, die Konfrontation mit einem „Trigger“ löse automatisch eine Reaktion aus, die zu Ge­walt führe, ist jedoch falsch und entspricht nicht der jahrzehntelangen Erfahrung der behandelnden Psychotherapeut*innen in den PSZ.

Anstatt pauschal eine erhöhte Gewaltnei­gung zu unterstellen, muss vielmehr die Frage in den Vordergrund gerückt wer­den, ob und warum eine Per­son wieder gewalttätig wird. Um dies zu verhindern, ist auf der individuellen Ebene die be­wusste Beschäftigung mit dem Geschehenen, die Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun entscheidend, also die Einsicht in die eigene Täter­schaft und die damit verbun­dene Auseinandersetzung mit dem schmerzlichen Gefühl der Schuld. Sie stellt nicht nur eine Grundvoraussetzung für das therapeutische Arbeiten dar, son­dern ist ein starker Indikator dafür, dass eine Person nicht mehr auf Gewalt als Mit­tel zurückgreifen muss.

3. Wie sieht die therapeutische Arbeit mit Menschen aus, die Gewalt ausgeübt haben?

Die Komplexität der Menschen erfordert eine möglichst maß­geschneiderte Therapie, d.h. sie sollte auf den jeweiligen Menschen „zugeschnitten“ sein und ihn in seiner Komplexi­tät erfassen. Vermeintlich ver­einfachende Zuschreibungen oder Kategorisierungen, wie z.B. Täter-Opfer, sind dabei wenig hilfreich und ste­hen einer gelingenden Therapie eher im Wege. Auf Seiten der Klient*innen sind ein gewisser Leidensdruck und Motivation nötig, um überhaupt eine Therapie zu be­ginnen. Auch die Bereitschaft zur Selbst­reflexion ist eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Therapie. Nicht zuletzt sind die äußeren strukturellen Bedingun­gen entscheidend für den Verlauf bzw. für eine weitestgehende Erholung ganz all­gemein. Dazu gehört z.B. der Umgang des Asyl- und Rechtssystems mit Geflüchteten und wie sich die Gesellschaft im Aufnah­meland den Geflüchteten gegenüber ver­hält. Bei traumatisierten Menschen ist die Zeit nach dem traumatisierenden Ereignis entscheidend und hat bedeutsame Aus­wirkungen auf den Genesungsprozess: Erfährt er Sicherheit und Schutz, welche nötig sind, um sich psychisch und phy­sisch zu erholen? Inwiefern werden seine Rechte, z.B. auf körperliche Unversehrt­heit, Freiheit, Selbstbestimmung, Würde, Vertrauen in den Anderen und die Welt im allgemeinen, welche bei sog. „man-made disasters“ [8] massiv verletzt wurden, im Nachgang gewahrt und wiederhergestellt?

Da Therapeut*innen v.a. in der Arbeit mit Opfern ausgebildet werden bzw. die Arbeit mit Täter*innen im Ausbildungskontext bisher zumindest nicht ausreichend be­rücksichtigt wird, kann die notwendige Auseinandersetzung mit begangenen Ge­walttaten im therapeutischen Prozess mit Handlungsunsicherheiten verbunden sein.

Während bei den Klient*innen die mit Traumatisierungen verbundenen Gefühle von Angst und Panik, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins zu Beginn einer The­rapie im Vordergrund stehen, werden eige­ne Taten oder Verbrechen oft erst spät in fortgeschrittener Therapie berichtet, wenn sich ein tragendes Vertrauensverhältnis zwischen Klient*in und Therapeut*in eta­bliert hat und im Äußeren eine gewisse Stabilität herrscht.

 

Die Gleichsetzung von Traumatisierung mit Radikalisierungs- oder Gewaltpotential ist falsch. - Ingrid Koop

Der Zeitpunkt der therapeutischen Aufar­beitung scheint auch in anderer Hinsicht von Bedeutung zu sein: In der Behandlung von ehemaligen Kriegstäter*innen fiel auf, dass die Bereitschaft zur Bearbeitung der eigenen Gewaltgeschichte in den ersten Jahren nach der Ankunft höher war. Mit dem Verstreichen der Zeit und der Ankunft in einem neuen Leben scheint sich eine stärkere psychische Abwehr aufzu­bauen. Dies kann ein Risiko darstellen für die transgenerationale Weitergabe [9] von unverarbeiteten seelischen Traumatisie­rungen von einer Generation auf die Mit­glieder einer nachfolgenden Generation.

Ein weiterer wichtiger Punkt in der The­rapie mit traumatisierten Menschen, die gewalttätig geworden sind, ist die Bearbeitung der Gefühle von Schuld und Scham. Bei Menschen, die Traumatisie­rungen erfahren haben, ohne selber ge­walttätig worden zu sein, finden sich neben Gefühlen der Angst und Depres­sion auch starke Gefühle von Scham und (Überlebens-)Schuld, insbesondere bei Menschen, die auch Folter überlebt haben. Hier kann es im Rahmen der Therapie heil­sam sein, ein Bewusstsein dafür zu erlan­gen, nicht nur Opfer, sondern auch Zeuge von Menschenrechtsverletzungen zu sein. Mit der Versprachlichung des Unsagbaren im therapeutischen (und z.B. im Rahmen von rechtlichen Klagen im öffentlich-ge­sellschaftlichen) Raum, also mit der begin­nenden „Vergesellschaftung“ der Verbre­chen, kann eine Anerkennung der erlebten Gewalt und Menschenrechtsverletzungen erfahren und damit eine Stärkung der Überle­benden erreicht werden. Im Idealfall wird durch eine Anzeige beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begange­nes Unrecht aufgearbeitet, anerkannt und geahndet.

In ähnlicher Weise, nur quasi mit verkehr­tem Vorzeichen, geschieht dies bei der the­rapeutischen Aufarbeitung von Realschuld und Scham mit Menschen, die gewalttätig wurden. Die Täter*innen müssen individu­ell dafür die Verantwortung übernehmen wollen, wobei der gesellschaftliche Aspekt zu beachten ist: Wofür ich mich schäme oder welche Taten mit Schuld verbunden sind, kann sich in Gesellschaften unter­scheiden. Dies gilt es zu verstehen und zu kontextualisieren.

Die Vergesellschaftung einer Tat entsteht angesichts eines Gegenübers, der die Tat bezeugt und sie damit sichtbar macht. Dies geschieht zunächst zwischenmensch­lich in der therapeutischen Beziehung bzw. in der Triade mit den Dolmetschen­den. Die Triade stellt bereits die kleinste Form der Gruppe, also im übertragenen Sinne die kleinste Form der Gesellschaft dar. Wenn Täterschaft in diesem Rahmen ausgesprochen und benannt wird, kommt dabei dem*der Therapeut*in und den Dol­metschenden die Rolle der Bezeugenden zu: Die Tat ist in diesem Sinne schon ein Stück weit veröffentlicht und anerkannt, die Übernahme der Verantwortung hat be­gonnen.

Auch auf Seiten der Therapeut*innen ist der Umgang mit tatsächlich ausgeübter Gewalt oftmals tabuisiert. Dies ist u.a. der bereits angesprochenen Täter-Opfer-Di­chotomie geschuldet, wodurch eine not­wendige Auseinandersetzung mit von Kli­ent*innen ausgeübter Gewalt verhindert und der therapeutische Prozess erschwert werden kann. Zudem können eigene blin­de Flecken auf Seiten der Therapeut*innen, wie die Ablehnung eigener aggressiver Im­pulse oder Vorurteile, in einer mangelnden Offenheit für entsprechende Inhalte re­sultieren, so dass diese von Therapeut*in­nen nicht angesprochen bzw. von den Klient*innen (unbewusst) zurückgehalten werden. Es braucht also eine selbstrefle­xive Offenheit und Auseinandersetzung mit den eigenen ungeliebten Anteilen auf Seiten der Therapeut*innen. Neben der dafür notwendigen Selbsterfahrung der Therapeut*innen sollte die Arbeit mit Tä­ter*innen im Ausbildungscurriculum von Therapeut*innen stärker berücksichtigt werden, um diese für das Ausbalancieren der komplexen Dynamik zu befähigen.

4. Welchen Einfluss haben rassistische und kulturalisierende Stereotype auf die Wahrnehmung von „Opfern“ und „Tätern“?

Neben der Bedeutung von Täterschaft in der Biographie von Klient*innen und in der Therapie spielen die in der Öffent­lichkeit und medial geprägten Narrative eine bedeutende Rolle für den Umgang der Gesellschaft mit (traumatisierten) Ge­flüchteten: Wer wird von wem als Täter*in bezeichnet und warum? Welche Narrative und Bedeutungen stehen dahinter und in­wiefern sind diese von (rassistischen Vor-) Urteilen geprägt?

Ein Beispiel ist hier die mediale Be­richterstattung über die Sylvesternacht 2015/2016 in Köln. Hier wurden durch einen bestimmten Mix von Anmoderation und Zusammenschnitt von Interviews und Handyvideos schon recht früh bestimmte Deutungsmuster angeboten, die Migran­ten und Geflüchtete als mutmaßliche Tä­ter festlegten. Diese legen nahe, dass se­xualisierte Gewalt mit einem bestimmten Kulturkreis und einer bestimmten Gruppe in Verbindung gebracht werden kann. Da­mit erscheint diese Gewaltform als eine, die „außen“ die deutsche Gesellschaft bedroht, während gesellschaftliche Struk­turen in Deutschland kaum in den Blick genommen werden, die bestimmte Männ­lichkeitsentwürfe favorisieren sowie Be­lästigungen und sexualisierte Gewalt an Frauen tabuisieren [10].

In ähnlicher Weise wird in der Berichtser­stattung von Attentaten, die in den letzten Jahren von Geflüchteten begangen wurden (beispielhaft die Attentate von Würzburg (06/2021), Herten (12/2018) und Ansbach (06/2016)), die Annahme nahegelegt, dass traumatisierte Geflüchtete eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Eine genauere Betrachtung der drei angespro­chenen Attentate und ihrer Berichterstat­tung zeigte zwar, dass alle drei Attentäter auch psychiatrisch behandelt wurden, je­doch auch, dass die psychiatrischen Kran­kenhäuser erst zu einem späten, teilweise schon eskalierten Zeitpunkt in die Versor­gung eingeschaltet wurden, als sich für alle Personen eine Situation der Ausweg­losigkeit abzeichnete, sie sich z.B. mit ei­ner drohenden Abschiebung konfrontiert sahen bzw. ein Klient – obwohl vorher in der Psychiatrie – zwi­schenzeitlich gar nicht mehr versorgt wurde.

Eine nachhaltige Stabilisie­rung der Personen wurde in allen drei Fällen nicht erreicht. Hier stellt sich die Frage, in­wiefern die Versorgungslandschaft in der Lage ist, auch mit Hinblick auf Selbst- und Fremdgefährdung Prävention und Vorsor­ge leisten zu können und inwiefern eine Verantwortungsdiffusion bzgl. der Be­handlung (traumatisierter) Geflüchteter die nötige Versorgungskontinuität gefähr­det. Missliche strukturelle Bedingungen in der Versorgung im Vorfeld wie eine Aussetzung der Therapie aufgrund man­gelnder Finanzierung, diskriminierende Zuschreibungen und Vorurteile durch Be­handelnde in der Psychiatrie, die eine ad­äquate Versorgung der (teils suizidalen) Person verhindern, und Sprachbarrieren im Gesundheitssystem können die Zuspit­zung einer psychischen Krise maßgeblich befördern.

Zielfördernder wäre es, die Prävention von Fremd- und Selbstgefährdung so zu gestalten und zu fördern, dass sie Teil der Behandlung ist. Die Anfälligkeit für para­noides Denken einer Person steigt, wenn die Sprache, die Umgebung, der (stationä­re) Behandlungskontext nicht vertraut sind, wenn sie große Unsicherheiten bzgl. ihrer Blei­beperspektive hat oder bereits im Vorfeld Opfer von diskriminierenden Anfeindun­gen oder Übergriffen geworden ist. Dieser spezifische Kontext muss in der Behand­lung von traumatisierten Menschen mit­gedacht werden und dies bereits, bevor sie in Krisensituationen geraten.

 

Es gibt keine „Zeitbomben“ im Menschen. Es gibt Zusammenhänge. Es ist wichtig, dass man diese rassistische und gewalttätige Normalität mit in den Blick nimmt. - Ariane Brenssell

Häufig entsteht in der öffentlichen Wahr­nehmung der unzulässige Kausalschluss, dass die Tatsache, dass die Personen in der Psychiatrie angebunden waren, ursäch­lich für die Tat war. Hat die Person einen Fluchthintergrund, wird die Tat häufig zu­dem kulturalisiert, bzw. dem „Anderen“ zugeschrieben („Othering“), was zu Feind­bildern, Stigmatisierungen und weiterer rassistischer Ausgrenzung und schließ­lich in die Legitimation von Ungleichbe­handlung führt.

Auch verhindert diese Gleichsetzung eine kritische Auseinander­setzung mit den vorhandenen diskriminie­renden und gewalttätigen Strukturen des Systems, die Teil der Normalität sind und, wie oben dargestellt, Situationen eskalie­ren lassen können. Hier ist ein Verweis auf die Zusammenhänge wichtig, nicht die In­dividualisierung von Verantwortung oder ihre Delegation an das Hilfesystem.

 

Man darf die Verantwortung nicht individualisieren und auch nicht nur an das Hilfesystem delegieren. Ich glaube, es ist wichtig, mehr die kollektive, gesellschaftliche Verantwortung von allen einzufordern, Menschen, die in schwierige, potentiell destabilisie­rende Zustände geraten können, zu halten und auch auszuhalten. - Usche Merk

Fazit

Das Konzept der sequenziellen Trauma­tisierung verweist explizit auf die ent­scheidende Bedeutung der auf erlittene Traumata folgenden Lebensphasen für die Entstehung und Überwindung psychischer Symptome. Das bedeutet, dass traumati­sche Erlebnisse und die damit verbunde­nen Folgen in einem Kontext gesehen und als Prozess aufeinander folgender Phasen beschrieben werden müssen, der von den Wechselwirkungen zwischen sozialer Umwelt und der psychischen Befindlich­keit der Menschen bestimmt wird. Dieser Wechselwirkung muss auch in der Versor­gung und Behandlung traumatisierter Per­sonen Rechnung getragen werden.

Die Auseinandersetzung mit Trauma, Folter, Gewalt und ihren Folgen sind indi­viduell und gesellschaftlich noch immer mit Tabus belegte Themen, sie schüren starke Ängste und Unsicherheiten und provozieren Abwehr und Widerstand. Vermutlich trifft dies in einem noch größeren Ausmaß auf das komplexe Phä­nomen von Täterschaft und ihren Zusam­menhang mit strukturell-gesellschaftli­chen Gegebenheiten zu. Umso notwendiger scheint eine gemein­schaftliche und fachlich differenziert ge­führte Diskussion zu diesem Thema.

 

Fußnoten

[1] Da sich die Psychosozialen Zentren als Schutzraum für trau­matisierte Gewaltopfer verste­hen, ist dort eine therapeutische Arbeit mit Menschen, die aktu­ell aggressiv, übergriffig oder bedrohlich agieren, aus einer Fürsorgepflicht gegenüber der Gesamtgruppe der Klient*innen nicht möglich.

[2] https://www.baff-zentren.org/baff/leitlinien/

[3] https://mediendienst-integra­tion.de/fileadmin/Dateien/

[4] https://mediendienst-integrati­on.de/fileadmin/Expertise_Hes­termann_Herkunft_von_Tatver­daechtigen_in_den_Medien.pdf Medienanalyse_Hestermann_Berichterstattung_Migrati­on_2022_Mediendienst.pdf

[5] Pariser Prinzipien 2007.

[6] Ein Gegenbeispiel stellen überzeugte Täter*innen wie die angeklagten Nationalsozia­list*innen in den Nürnberger Pro­zessen dar, deren Taten für sie im Einklang mit ihrem Referenz­rahmen einer antisemitisch-fa­schistischen Grundüberzeugung standen und die keine Zeichen psychischer Belastung zeigten.

[7] Erinnerungsbilder sind Folge­erscheinungen des Traumas, bei denen unwillkürlich auftretende, vorübergehende und intensiv wieder erlebte Erinnerungen, die plötzlich nach einem Schlüssel­reiz (Trigger) auftreten, von Neu­em durchlebt werden müssen.

[8] Man-made disasters (durch Menschenhand verursachte Traumata) sind andauernde oder sich wiederholende trau­matische Erlebnisse wie Folter oder Missbrauch und ziehen häufig tiefgreifende und schwere Stö­rungen bzw. psychische Proble­me nach sich.

[9] Dabei handelt es sich in der Regel um ein unbeabsichtigtes, oft unbewusstes und nicht selten auch ungewolltes Geschehen.

[10] https://www.gwi-boell.de/sites/default/files/web_161122_e-paper_gwi_medienanalyse­koeln_v100.pdf

Literatur

Brenssell, Ariane; Hartmann, Ans; Schmitz-Weicht, Cai (2020): Kontextualisierte Traumaarbeit. Beratung und Begleitung nach geschlechtsspezifischer Gewalt – For­schungsergebnisse aus der Praxis feministischer Bera­tungsstellen. Berlin: bff.

Koop, Ingrid Ingeborg: Narben auf der Seele: Integrative Traumatherapie mit Folterüberlebenden. https://www.re­fugio-bremen.de/wp-content/uploads/2014/04/2001-Koop-integrative-traumatherapie-folteropfer.pdf

Kosijer-Kappenberg, Sladjana (2018): Verständnis von Tä­terschaft im Kontext von Krieg und Flucht: Zwischen gesell­schaftlicher Verantwortung und individueller Schuld. Van­denhoeck & Ruprecht.

Zito, Dima (2015): Überlebensgeschichten. Kindersolda­tinnen und -soldaten als Flüchtlinge in Deutschland. Eine Studie zur sequentiellen Traumatisierung. Beltz Juventa.

 

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Text erschien zuerst in der von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.) herausgegebenen Publikation „Mächtige Narrative - Was wir uns nicht erzählen. Über den Zusammenhang von Gewalt, Stress und Trauma im Kontext Flucht“. Wir danken den Herausgeber*innen und der Autorin für die Erlaubnis, den Beitrag hier in Teilen wiederzuveröffentlichen.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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